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Wie Mutterschaft unser Mitgefühl verändert

Im Gegensatz zu anderen Säugetieren kommen Menschen unfertig auf die Welt und benötigen viel Fürsorge von ihren Eltern. Unser Gehirn unterstützt diese Fürsorge durch aktives Mitfühlen, das bei Müttern verstärkt auftritt.

Ein ganz normaler Tag am Spielplatz. Die Eltern sitzen auf den Bänken und tratschen, die Kinder tollen über die Geräte. Maxi und Emma machen einen Wettbewerb: Wer am weitesten von der Schaukel springen kann, gewinnt. Höher und höher schaukeln sie, fliegen durch die Luft und landen im Sand. Maxi führt, doch Emma will sich nicht geschlagen geben. Sie schwingt ihre Beine, bis es nicht mehr höher geht. Dann, am höchsten Punkt, lässt sie los. Doch die Schaukel gibt ihr eine leichte Drehung und anstatt kontrolliert zu springen und sicher auf den Füßen zu landen, strudelt sie wild durch die Luft, landet schief und knickt um. Man hört einen lauten Knacks – der Knöchel ist gebrochen.

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Falls Sie bei der Beschreibung dieser Szene gerade ein kleines „Uuuuh“, „Autsch“ oder ähnliches ausgestoßen haben, dann sind Sie damit nicht allein. Wir Menschen können intensiv den Schmerz von anderen mitfühlen. Ein Blick in unser Gehirn zeigt, dass hiermit nicht ein abstraktes Mitfühlen gemeint ist, sondern ein beinahe wortwörtliches. Wie Tania Singer und ihre Kolleg:innen zeigen konnten, gibt es eine Region in unserem Gehirn, welche die interessante Eigenart hat, nicht nur aktiviert zu werden, wenn wir selbst Schmerzen erfahren, sondern auch, wenn wir andere, die Schmerzen haben, beobachten: die anteriore, also weiter vorne Richtung Augen gelegene, Inselrinde. Das bedeutet, dass eine Person zu beobachten, die Schmerzen hat, und selbst Schmerzen zu fühlen in unserem Gehirn  – zu einem gewissen Grad  – dieselbe Reaktion auslösen. Diese Reaktion ist der physiologische Grund, warum wir mit einem „Autsch“ reagieren, wenn wir Schmerzen anderer mitfühlen und nicht nur dann, wenn wir sie selbst erleben. 

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Wie oft wir dieser Reaktion in der Inselrinde ausgesetzt sind und dadurch den Schmerz anderer mitfühlen, ist sehr unterschiedlich. Während viele vor allem bei Horrorfilmen in diesen zweifelhaften Genuss kommen, ist das bei einigen Menschen Alltag: Die Rede ist von Eltern bzw. generell von allen Menschen, die viel mit Kindern zu tun haben. Denn Menschen kommen relativ unfertig auf die Welt: Sie können weder gehen, noch sitzen, nicht einmal ihren Kopf können sie selbstständig halten. Während bei vielen anderen Säugetieren die Jungen bereits nach einer halben Stunde sogar unebenes Terrain meistern, dauert es hingegen Jahre, bis Kinder so sicher unterwegs sind wie Erwachsene. Vor diesem Hintergrund hat unser mitfühlendes Gehirn einen großen Vorteil: Es motiviert uns, unsere Kleinen vor Schmerzen zu bewahren, da ihre Schmerzen auch unsere Schmerzen sind.

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Unser Gehirn ist nicht nur ungemein leistungsfähig, sondern auch unglaublich flexibel. Je öfter wir etwas tun, desto stärker werden die dabei aktivierten Verbindungen in unserem Gehirn gemäß der Hebbschen Lernregel. Diese wird häufig zusammengefasst als „Neurons that fire together, wire together“, also dass Nervenzellen, die gleichzeitig aktiviert werden, auch stärker verbunden werden. Dies erlaubt es auch, dass sich das Gehirn auf unsere Lebensumstände anpasst. Es wird quasi „schießfreudig“ und reagiert nicht nur schneller, sondern auch stärker auf Situationen, denen wir häufiger ausgesetzt sind.

Dieser Umstand führte mich zu folgender Forschungsfrage: Nehmen wir an, dass unser Gehirn lernen kann, auf gewisse Situationen stärker zu reagieren, und dass Menschen mit Kindern öfter in Situationen sind, in denen sie diese Kinder in potenziell schmerzhaften Situationen beobachten. Bedeutet das dann, dass die Gehirne von Eltern stärker auf die Schmerzen anderer Kinder oder sogar anderer Erwachsener reagieren? Da in Deutschland Frauen einen großen Teil der Kinderbetreuung übernehmen, luden wir sowohl Mütter als auch Frauen ohne Kinder ein, um dieser Forschungsfrage nachzugehen. Wir zeigten ihnen Bilder von schmerzhaften und neutralen Situationen, während wir mit Magnetresonanztomographie gemessen haben, wie stark ihre anteriore Insel aktiviert wurde. Anschließend verglich ich den Unterschied in der Aktivierung zwischen schmerzhaften und neutralen Bildern bei Müttern und Frauen ohne Kinder.

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Zusätzlich wollte ich herausfinden, ob eine eventuelle Verstärkung der Reaktion spezifisch auf Kinder beschränkt ist oder generell alle Menschen in schmerzhaften Situationen betrifft. Daher waren auf der Hälfte der Bilder den Studienteilnehmerinnen unbekannte Erwachsene zu sehen und auf der anderen Hälfte ihnen unbekannte Kinder. Wichtig war uns, dass sich die Bilder so wenig wie möglich unterscheiden: Wenn ein Bild ein Kind zeigt, das sich mit einer Säge schneidet, so zeigt ein anderes dasselbe Kind, wie es unversehrt die Säge benutzt. Wieder ein anderes zeigt eine erwachsene Person, die sich mit der Säge verletzt. Das letzte Bild zeigt dieselbe erwachsene Person, wie sie die Säge benutzt, ohne sich zu verletzen. Um sicherzustellen, dass die schmerzhaften Bilder auch wirklich unseren Mitfühl-Reflex auslösen und die neutralen nicht, baten wir Menschen in einer Vorstudie, die Schmerzhaftigkeit der Bilder zu bewerten. Wir wählten jene Bilder für unsere Studie aus, die bei allen eine starke Reaktion auslösten.

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Beim Vergleich der Aktivierung fand ich heraus, dass die anteriore Insel von Müttern bei schmerzhaften Bildern stärker aufleuchtete als bei Frauen ohne Kinder – und das ungeachtet davon, ob eine erwachsene Person oder ein Kind auf den Bildern zu sehen war. Das deutet darauf hin, dass Mutterschaft tatsächlich zu einem verstärkten Mitfühlen der Schmerzen anderer führen könnte.

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Es wäre allerdings auch eine andere Interpretation zulässig: Frauen, die stärker mit anderen Menschen mitfühlen, könnten eher Mütter werden. Allerdings waren viele unserer Studienteilnehmerinnen noch jung und die meisten unserer Frauen ohne Kinder gaben an einen Kinderwunsch zu haben. Das bedeutet, dass viele unserer Frauen ohne Kinder noch Mütter werden könnten. Um die Richtung des Effekts eindeutig bestimmen zu können, müssten wir unsere Erkenntnisse aber in einer Langzeitstudie überprüfen, in der Frauen unsere Aufgabe zweimal durchführen: einmal, bevor sie Kinder bekommen, und noch einmal, wenn sie Mütter sind.

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So wie es in der Forschung oft der Fall ist, werfen unsere neuen Erkenntnisse gleichzeitig neue Fragen auf. Denn natürlich sind Mütter nicht die einzigen, die viel Zeit mit unseren tollpatschigen Kindern verbringen. Was ist mit Vätern? Generell würden wir erwarten, dass Veränderungen im Gehirn von Eltern, die auf die Erfahrungen mit Kindern zurückzuführen sind, auch auf Väter zutreffen. Allerdings wäre es auch möglich, dass die biologischen Veränderungen in der Schwangerschaft eine bedeutende Rolle spielen. Studien mit Vätern und Müttern, die in Ruth Feldmans Arbeitsgruppe durchgeführt wurden, deuten auf beides hin: Während manche Veränderungen in den Gehirnen von Eltern unabhängig vom Geschlecht stattfinden, gibt es auch geschlechterspezifische Effekte. Auch Studien, die Adoptiveltern mit biologischen Eltern verglichen, zeigen ein ähnliches Bild, also eine Kombination aus Unterschieden und Gemeinsamkeiten.

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Unsere Vergleichsstudie von Frauen mit und ohne Kinder zeigt, wie unsere Lebensumstände unser Sozialverhalten beeinflussen können. Wie unser Gehirn auf Situationen reagiert, kann durch unsere Erfahrungen verändert werden. Mitfühlen kann also verstärkt werden, wenn wir es intensiv und regelmäßig üben.

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